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"Aus der Praxis kommt viel zurück"

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Linnéa Hauenstein arbeitet seit 2021 als Forscherin und Beraterin in der Gruppe Weinbau & Önologie am FiBL Schweiz. Die gelernte Winzerin hat einen Bachelor in Weinbau und Önologie und einen Master in Organic Agriculture and Food Systems.

Gerne hätten wir Sie schon früher interviewt, aber Sie waren damit beschäftigt, Teebeutel auszugraben. Was hat das mit biologischem Weinbau zu tun?

Wir führen zwei Projekte durch, um die Interaktion von Bäumen in unmittelbarer Nähe zur Rebe in sogenannten Vitiforstsystemen zu verstehen. Durch die Teebeutel, die wir zehn Zentimeter tief in den Boden graben, erkennen wir, ob es am Baum eine unterschiedliche Abbaugeschwindigkeit gibt im Vergleich zur frei stehenden Rebe. Diese Aktivität des Bodenlebens ist stark verknüpft mit der Verfügbarkeit von Wasser, ein zunehmendes Problem mit dem Klimawandel. Die Bäume sorgen für mehr Beschattung und mehr organisches Material, zum Beispiel Laub, was dazu führen kann, dass Starkregen besser versickert und sich die Bodenstruktur verbessert.

Wie wird das Thema Vitiforst von den Berufsleuten in der Praxis aufgenommen?

Vitiforst ist in der Praxis ein aktuelles Thema. Im Ackerbau gibt es bereits einige vielversprechende Ergebnisse. Im Weinbau hingegen ist die wissenschaftliche Datenlage noch recht dürftig; da möchten wir in den nächsten vier Jahren für den Weinbau in der Schweiz erste Ergebnisse liefern.

Piwi-Sorten, also pilzwiderstandsfähige Reben, sind eine Alternative im Weinbau. Was können Piwis besser als konventionelle Sorten?

Ihr Vorteil ist, dass sie widerstandsfähig sind gegen den Echten und den Falschen Mehltau. Ohne Pflanzenschutz ist auch biologischer Weinbau nicht möglich, schon gar nicht mit europäischen Sorten und in nassen Sommern. Setzen wir Piwis ein, benötigen wir bis zu drei Viertel weniger Pflanzenschutzmittel und können viele Arbeitsstunden einsparen. Diese Energie und Arbeitskraft kann man dann in andere Bereiche einbringen, zum Beispiel die Bodengesundheit oder für Biodiversitätsmassnahmen. Das bedeutet nicht, dass traditionelle und europäische Sorten ersetzt werden können. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern ein sicheres Miteinander.

In der Gruppe Weinbau & Önologie wird bereits an der nächsten Generation klimawiderstandsfähiger Rebsorten gearbeitet, den Kliwis. Was bedeutet dies für den Weinbau?

Sie sprechen unser Interreg-Projekt KliwiResse an. Es wird von Forschenden aus Deutschland geleitet, und mein Kollege Dominique Lévite sowie Mitarbeitende in Frankreich sind beteiligt. Dabei geht es um Sortenunterschiede, etwa in der Anfälligkeit gegenüber Sonnenbrand oder Hitzeschäden.

Sie forschen zu Rebsorten, die sich dem Klimawandel anpassen, anstatt Ihre Energie dafür einzusetzen, die Ursachen der Krise zu bekämpfen. Ist das Resignation?

Ich weiss nicht, ob ich es Resignation nennen möchte. Aber wir akzeptieren nun, dass es wirklich nicht mehr so ist wie zu Grossvaters Zeiten und versuchen Betriebsabläufe daran anzupassen. Ich finde die Veränderungen der letzten Jahre beeindruckend. Ich erinnere mich an meine ersten Lehrjahre als Winzerin, als man noch nicht gewohnt war, dass alles immer früher einsetzt: Die Winzer waren noch im Urlaub, die Presse war noch nicht geputzt. Mit den Betriebsnachfolgern, die heute ausgebildet werden, kommt nun ein anderer Ansatz in den Weinberg als ihn vielleicht noch die Pioniere des Bioweinbaus hatten.

Intensiv bewirtschaftete Weinberge und Naturschutz, wie passt das zusammen?

In Reihenkulturen hat man unglaublich viel ungenutzten Platz: dazwischen. Den kann man aufwerten durch artenreiche Einsaaten, die Nährstoffe fixieren können oder für eine bessere Durchwurzelung und Belebung des Bodens sorgen. Das kommt auch der Rebe zugute. Hier am FiBL haben wir in einer ungenutzten Spitzzeile im Frühjahr einen Steinhaufen mit Ästen und Heckenstruktur angelegt, ein Refugium für Kleintiere, ohne den Reben Platz zu nehmen. So genutzt, gehen Biodiversität und Weinbau gut zusammen.

Sie haben selbst auch einen Weinberg?

Ja, aber nur hobbymässig, am Wochenende. Winzerin ist der Beruf, den ich als Erstes gelernt habe, und es ist mir auch sehr wichtig, mich ab und zu ein bisschen erden zu können und nicht nur in der Sphäre des Vitiforst mit Teebeuteln zu schweben. Einfach am Wochenende auch mal im Rebberg stehen können und wissen, wofür ich das mache.

Nah an der Praxis sind Sie auch in Ihrer Beraterinnenrolle. Wie verschaffen Sie sich als junge Frau im Weinbau Gehör?

Im Moment verfasse ich zusammen mit den Kantonen das zweiwöchentliche Pflanzenschutzbulletin Winzerinfo. Daneben organisiere ich Kurse und sorge für Erfahrungsaustausch. Ich arbeite schon eine gewisse Zeit im Weinbau und wurde auf Weingütern sowie in meinem Studium für Weinbau und Önologie sehr gut ausgebildet. Da ist es durchaus frustrierend, als junge Frau manchmal nicht direkt anerkannt zu werden. Allerdings dauert es meist nur kurz, bis die Menschen erkennen, dass ich kompetent bin, den Produzierenden gerne zuhöre und ich ihnen helfen kann. Nur wenn wir Erfahrungen austauschen und bereit sind, voneinander zu lernen, können wir das Beste herausholen. Wichtig ist deshalb, diesen Austausch zu fördern, sei es mit Veranstaltungen und Exkursionen oder über Vernetzung mit Projektbetrieben.

Was ist Ihre Vision für Ihre künftige Arbeit am FiBL?

In unserer vergrösserten Gruppe haben wir nun am FiBL viel mehr Kraft, wieder näher an die Biowinzerinnen und -winzer zu rücken und ihre Bedürfnisse einzufangen. Mit dem Vitiforstprojekt zum Beispiel treffen wir bei den Produzenten und Produzentinnen bereits einen Nerv und können interessant und relevant sein. Eine Exkursion mit zwanzig Winzerinnen und Winzern aus der Deutschschweiz nach Deutschland, um solche Systeme anzuschauen, war für mich jüngst ein echtes Erfolgserlebnis. Hier sehe ich auch künftig die Rolle für das FiBL und für mich: eine Doppelrolle zwischen Beratung und Praxisforschung. Aus der Praxis kommen ganz viele wertvolle Erfahrungen zurück, die man in die Forschung am FiBL einbringen kann, wenn es uns gelingt, eine Plattform für Vernetzung und Austausch zu sein.

Interview: Sabine Reinecke; Mitarbeit: Beat Grossrieder

Dies ist eine gekürzte Version eines Interviews, das in der Ausgabe 8/23 des Magazins Bioaktuell erschienen ist. Dieses ist als PDF verfügbar.

Weitere Informationen

Link

orgprints.org: Interview "Aus der Praxis kommt viel zurück" aus dem Magazin Bioaktuell 8/23