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DIREKT AUS KOPENHAGEN: Klimawandel und soziale Gerechtigkeit

Die Frage der sozialen Gerechtigkeit taucht an der Klimakonferenz in Kopenhagen an vielen Veranstaltungen auf. So fürchten Kleinbauern, dass sie von allfälligen Fördermitteln für klimafreundliche Landbewirtschaftung ausgeschlossen werden. FiBL-Direktor Urs Niggli kommentiert.

Die Wissenschaftswelt rät dringend, die bis zum Jahr 2050 zu erwartende globale Erwärmung auf plus 2 Grad Celsius zu beschränken, um einen zu starken Anstieg des Meeresspiegels zu verhindern. Dieses Ziel wird von der Weltpolitik unterstützt, am Weg dorthin scheiden sich aber nach wie vor die Geister. Denn es geht um viel: Die industrialisierten Länder haben seit der industriellen Revolution um 1850 bis heute jährlich pro Kopf der Bevölkerung 14 Tonnen CO2 ausgestossen. In der gleichen Zeit haben die Menschen in Entwicklungsländern nur 2 Tonnen emittiert, also nur ein Siebtel. Wenn die Menschheit das Ziel von höchstens 2 Grad Erwärmung erreichen will, dürfte die Pro-Kopf-Emission an Treibhausgasen pro Jahr nicht mehr als 3.5 Tonnen ausmachen. Die Industrieländer haben also historisch gesehen auf dem Buckel der Entwicklungsländer gelebt und eine gigantische "Klimaschuld" angehäuft.

Der Nobelpreisträger Rajendra Pachauri, Vorsitzender des Weltklimarats IPCC, präsentierte als Direktor des Instituts für Energie und Ressourcen TERI in New Dehli an der Klimakonferenz in Kopenhagen einen Vorschlag, wie diese Schuld der entwickelten und industrialisierten Länder abgebaut werden kann. Denn es geht beim Klima nicht zuletzt um soziale Gerechtigkeit. Wie können Entwicklungsländer an der wirtschaftlichen Entwicklung und am globalen Wohlstand teilhaben, ohne dass sie die Fehlentwicklungen der vom Erdöl getriebenen Industrialisierung nachvollziehen und damit den Klimawandel weiter beschleunigen? Nach einem Szenario des TERI beträgt die von den Industrienationen angehäufte Klimaschuld Jahrestranchen von 50 bis 540 Milliarden US-Dollar, welche 40 Jahre lang (2010 bis 2050) an die Entwicklungsländer zurückbezahlt werden müssten. Die 540 Milliarden entsprechen der Klimaschuld, welche seit 1850 angehäuft wurde (Preisbasis 30 US-Dollar pro Tonne CO2), die kleinste Summe entspricht der Schuld, welche seit 1990, dem Jahr der Konferenz von Rio de Janeiro ("Erdgipfel"), angehäuft wurde (Preisbasis nur 10 US-Dollar pro Tonne CO2). Durch die Rio-Konferenz wurde die Klimaproblematik erstmals allgemein bekannt.

Diese gigantischen Summen könnten die Entwicklungsländer nutzen, um eine moderne, energiesparende und vom Erdöl unabhängige öffentliche Infrastruktur und Wirtschaft zu entwickeln. Damit könnten die Entwicklungsländer den direkten Übergang von einer energiearmen Primärwirtschaft, welche noch stark auf der Landwirtschaft basiert, hin zu einer modernen, energiearmen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft schaffen.

Was bedeuten diese Summen für die nationalen Wirtschaften der Industrie- und Entwicklungsländer? Die USA beispielsweise müssten zurzeit 4 Promille ihres Bruttosozialproduktes als Schuld zahlen (44 Milliarden US-Dollar für das Jahr 2005), in Deutschland macht das 3.6 Promille aus (7 Milliarden US-Dollar) und in Norwegen etwa 1 Promille (200 Millionen US-Dollar). Zahlen für die Schweiz sind nicht verfügbar.

Bangladesh, ein Land, in welchem die Bevölkerung sehr stark wegen des steigenden Meeresspiegels leiden wird, würde für das Jahr 2005 zehn Prozent seines Bruttosozialproduktes als zusätzliche Investitionshilfe an die Anpassungsmassnahmen erhalten, bei anderen Entwicklungsländern macht das zwischen einem und acht Prozent aus. Für die Verwaltung dieser historischen Klimaschuld schlägt Rajendra Pachauri die Gründung des Weltklima-Schulden-Fonds WCDF vor (englisch: World Climate Debt Fund), welcher unter der Aufsicht bestehender UNO-Organisationen von den Geber- und Nehmerländern zu verwalten wäre.

Die soziale Gerechtigkeit taucht in Kopenhagen an vielen Veranstaltungen als sehr drängende Frage auf. So fürchten zum Beispiel kleine und mittlere Bauern, dass sie von allfälligen Fördermitteln für klimafreundliche Landbewirtschaftung ausgeschlossen werden. Falls solche Fördermassnahmen beschlossen werden, sind natürlich Grossbauern und industrielle Agrarunternehmer besser positioniert, weil sie riesige Flächen anzubieten haben, wo die Transaktionskosten (Kosten für die Umsetzung, Überwachung und Auszahlung) viel tiefer sind. Die Kleinbauern in Entwicklungsländern sind bereits heute von der Innovation durch die Forschung abgeschnitten, und die öffentlichen Beratungsstrukturen wurden in vielen Ländern wegen der leeren Staatskassen massiv zurückgefahren. Grossunternehmer können es sich dagegen ohne Weiteres leisten, Berater und Techniker einzukaufen und ihre Betriebe nach den modernsten Methoden zu optimieren.

Bei der allfälligen Förderung von klimafreundlichen Landwirtschaftsmethoden ist der Biolandbau gut positioniert. Die Inspektion und Zertifizierung dieser Massnahmen kann mit geringen Zusatzkosten in die allgemeine jährliche Zertifizierung der Biobetriebe integriert werden.

Urs Niggli, 15. Dezember 2009, 13:45 Uhr

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  • Climate change and social justice